Von Bern bis Berlin – die Deutschen und der Fußball ****

Tor, Tor, Tor! Der dreifache Ruf des Radioreporters Herbert Zimmermann gilt als Säuglingsschrei des deutschen Fußballs. Das war 1954, als Helmut Rahn im WM-Finale von Bern das 3:2-Siegtor gegen die „unschlagbaren“ Ungarn schoss. Fast jeder Deutsche hat irgendwann in seinem Leben die Schwarzweißbilder aus dem Schweizer Dauerregen gesehen und Zimmermanns legendäre Worte gehört: „Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen!“ Und Rahn schoss. Trainer Sepp Herberger, genannt „der Chef“, Kapitän Fritz Walter, Bruder Otmar Walter, Hans Schäfer… Ihr Spiel und ihr Sieg in Bern – das „Wunder von Bern“ – waren die Geburtsstunde der Deutschen als friedliche Erfolgsnation.

Begeisterung bei der Jugend

Natürlich wurde der deutsche Fußball nicht erst am 4. Juli 1954 geboren. Das geschah schon ein halbes Jahrhundert vorher. Das „englische Spiel“ war von Beginn an auf Begeisterung bei der deutschen Jugend gestoßen, aber nicht immer bei der Obrigkeit[1]. Als 1909 eine katholische Jugendgruppe Borussia Dortmund gründete (benannt nach einer Brauerei), mündete das in eine Schlägerei mit den Anhängern eines Priesters, der das Fußball-Hobby der Jugendlichen bekämpfte. Auch die Gründer des FC Schalke 04, junge Arbeiter ohne Platz und Ball, mussten viele Hürden nehmen. Hilfe kam von einem Gastwirt. Er spendierte eine Spielwiese. Die Rechnung ging auf: Nach dem Spiel kamen die Kicker in seine Kneipe[2].

So entstanden, mit dem Namen einer Brauerei und dem Geld eines Kneipiers, zwei der populärsten Klubs. Stellt man sich den deutschen Fußball als kleinen Erdball vor, dann ist die Achse Schalke-Dortmund, quer durch die Industrieregion des Ruhrgebiets, der Äquator — ergänzt durch den Nordpol Hamburg-Bremen und den Südpol Bayern München. Alle zehn Europapokalsiege durch Bundesligaklubs in den Wettbewerben der Meister (heute: Champions League ) und der Pokalsieger wurden von Teams dieser drei Regionen erzielt.

Die Liebe zum Fußball

Die Deutschen lieben Fußball. Und sie lieben das Gewinnen, woran sie sich gerade im Fußball gewöhnen konnten. Außer Brasilien war keine Fußballnation so erfolgreich: dreimal Weltmeister, viermal Zweiter, zweimal Dritter; dreimal Europameister. Ob es in diesem Jahr bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland auch wieder zu einem Erfolg kommt?

Viele sagen, Fußball spiegle den Charakter eines Volkes, vielleicht auch die Kinderstube. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen. Dieses Motto findet sich fast immer auch in deutschen Teams wieder. Sie sind stets gut organisiert, diszipliniert, tun ihre Arbeit, die im Fußball vor allem Laufen, Kämpfen, Aufbäumen[3] heißt. Erst wenn all das funktioniert, finden sie auch zum Spiel, zur Schönheit und Leichtigkeit.

Erst die Arbeit, dann der Fußball. Immer mehr Deutsche sehen das Spiel als ein lebenswichtiges Vergnügen an, bei dem noch echte Leidenschaft gezeigt werden kann. Im Schnitt über 40000 Zuschauer pro Spiel in der ersten Hälfte der aktuellen Saison machten die Bundesliga zur bestbesuchten Liga Europas. Über sechs Millionen Mitglieder und 170000 Mannschaften zählt der Deutsche Fußball-Bund (DFB). Darunter sind, mit steigender Tendenz, fast eine Million Frauen und Mädchen. Die deutschen Frauen sind, was die Männer noch werden wollen: Weltmeister.

„Deutschland“ magazine/Februar/März 2006/Christian Eichler (gekürzt)

 

Der Artikel erschien in „Der Weg“ 2/2006

[1] die Obrigkeit: (veraltend) die Personen oder die Institution, die die Macht haben
[2] die Kneipe: Gastwirtschaft
[3] aufbäumen: (hier) sich ruckartig hoch aufrichten; gegen alle Widerstände angehen