Alles muss man planen

Liebe Irina,

herzlichen Dank für deinen Brief. Erst heute habe ich Zeit, dir zu antworten. In dieser Woche hatte ich viele Termine: ich war beim Arzt, habe meine Freunde besucht und ließ mir eine neue Frisur[1] machen. Ja, in Deutschland ist es üblich, dass man viel plant. Man plant für die nächste Woche, was man alles erledigen muss. Man plant auch langfristig, z.B. den kommenden Urlaub. Die Deutschen sind ja nicht so spontan. Früher, in meiner Heimat, hätte ich keine Verwendung für einen Terminkalender gehabt. Ich hatte alles im Kopf. Arzttermine konnte ich am gleichen Tag erledigen. Ich musste das nicht lange planen. In Deutschland muss man einen Arzttermin zuerst telefonisch vereinbaren. In die Sprechstunde[2] geht man dann oft erst in einigen Wochen, wenn es nichts Akutes[3] ist.

Komm doch mal vorbei…

Auch Freunde und Bekannte zu besuchen ist nicht so einfach. Es ist üblich, dass man ein Treffen zuerst vereinbart[4]. Ohne Einladung zu kommen gilt als unhöflich. In Russland sehen das die Menschen viel lockerer[5]. Unhöflich wäre es nur, jemanden zu besuchen, wenn er schon schläft. Oft sagen die Deutschen: „Kommen Sie mal bei uns vorbei“. „Mal“ muss man dann verstehen als „irgendwann“, das heißt nicht morgen zum Abendbrot. Eine konkrete Einladung mit Datum und Uhrzeit muss erst noch folgen.

Es ist sogar üblich, dass der Besucher schon vorher zu Hause gegessen hat, um den Gastgeber nicht auszunützen. Meistens werden dem Besuch Getränke und Kleinigkeiten wie Salzgebäck oder Süßigkeiten angeboten. Man sollte lieber nicht mit einem reich gedeckten Tisch rechnen. Stell Dir vor, einmal habe ich ein ganz besonderes Essen mit viel Mühe zubereitet und wollte es freudig meinem Besuch anbieten. Doch ich bekam zur Antwort: „Nein danke, ich habe schon zu Hause gegessen.“ Du kannst Dir bestimmt meine Enttäuschung vorstellen.

Man sagt über die Schwaben[6], dass sie besonders geizig[7] sind und ihre Gäste auf solche Weise einladen: „Kommt kurz nach dem Mittagessen, dann könnt ihr zum Kaffetrinken wieder zu Hause sein.“

Keine Zeit vor lauter Terminen

Was die Termine[8] angeht, finde ich es interessant, dass es im Russischen kein bestimmtes Wort für „Termin“ gibt. Das sagt schon viel über die Mentalität der Menschen aus. Die Deutschen brauchen Termine, weil es für sie wichtig ist, dass sie so viel wie möglich an einem Tag erledigen. Und obwohl das Leben so geplant und geregelt ist, leiden viele an Zeitnot.

Mir gefällt das Sprichwort: „Die Europäer haben die Uhr und die Afrikaner haben die Zeit“. Genauso wie den Afrikanern geht es meinen Landsleuten, weil sie es noch nicht vergessen haben, das Leben vor lauter Terminen zu genießen.

Irina, ich freue mich sehr, dass du mich im Sommer besuchen willst. Gib mir einfach Bescheid, wann du genau kommen willst – ich muss erst noch planen…

Alles Gute wünscht dir deine Freundin Elena

[1] die Frisur: die Art und Weise, wie jemandes Haar geschnitten und frisiert ist – Haarschnitt
[2] die Sprechstunde: eine bestimmte Zeit, in der man z.B. zu einem Arzt, zu einem Lehrer o.Ä. gehen kann, um sich einen Rat zu holen oder um Fragen zu stellen
[3] akut: (hier) bezogen auf eine Erkrankung, die plötzlich ausgebrochen ist und schnell und heftig verläuft
[4] vereinbaren: zwei oder mehrere Personen beschließen, etwas Bestimmtes zu tun
[5] locker: (hier) in seinem Verhalten unkompliziert; nicht streng
[6] Die Schwaben wohnen vor allem im Südwesten Deutschlands
[7] geizig: übertrieben sparsam
[8] der Termin: der Zeitpunkt, an dem etwas fertig sein oder stattfinden soll