Weihnachten

Finsternis am hellen Tag **

Der alte Jonathan sitzt am Fenster und blickt hinaus. Stockdunkel ist es, als ob es mitten in der Nacht wäre. Jonathan hört aufgeregte Stimmen, verwirrte Rufe.

Es ist kurz nach zwölf Uhr mittags. Er hört Schoschanna von draußen rufen. „Großvater, Großvater!“ Bald darauf stolpert die kleine Schoschanna ins Haus. „Großvater, was ist das? Warum ist es plötzlich überall dunkel? Es ist doch erst Mittag! Großvater, ich habe Angst!“

Jonathan nimmt seine Enkelin in den Arm.

„Auf dem Tisch steht eine Lampe“, sagt Jonathan. „Wir wollen sie anzünden.“ „Habe keine Angst, komm, setz dich zu mir. Was kann das sein – Dunkelheit, mitten am Tag? Ich habe schon einmal etwas Ähnliches erlebt. Aber das war genau das Gegenteil!“, erinnert sich Jonathan.

Wolke (Bild: Der Weg)

„Was war es denn?“, fragt Schoschanna eifrig.

„Es ist schon lange her, es war vor 33 Jahren, als die Volkszählung stattfand“, begann Jonathan. „Wir hatten eine große Herde Schafe und Ziegen, und wir wohnten damals nicht hier in Jerusalem, sondern in Bethlehem. Nachts bewachten wir die Tiere auf der Weide. Aber eines Nachts wurde es plötzlich taghell. Bei diesem Licht schrien wir alle vor Angst! Es war so – unnatürlich. Und außerdem stand da auch jemand, den wir nicht kannten.“

„Ein Räuber?“ „Nein, er sah aus wie ein Mann, aber er leuchtete. Das war ein Engel, ein Bote Gottes, und er sagte etwas ganz Sonderbares[2]!“

„Was hat er denn gesagt, Großvater? Erzähl doch!“, drängt Schoschanna. Die spannende Geschichte gefällt ihr. Schon ist sie von ihrer eigenen Angst abgelenkt.

„Der Engel hat zuerst gesagt, wir sollen keine Angst haben. Wir hatten trotzdem Angst, das kannst du dir vorstellen. Aber er sagte dann: Ich bringe euch die größte Freude für alle Menschen. Der Messias[3] ist geboren! Weißt du, was das heißt, Schoschanna?“

„Ich hab das Wort schon mal gehört … aber was ist das?“

„Weißt du, Schoschanna, unsere alten Schriften[4] erzählen viel vom Messias. Er wird von Gott zu uns geschickt, und dann wird alles besser. Er ist ein König, vielleicht auch ein Priester oder ein Prophet. Auf jeden Fall kommt er von Gott.“

Nach einer kurzen Pause sprach Jonathan weiter:

„Der Engel damals hat gesagt, dass wir ein neugeborenes Baby in einem Futtertrog[5] finden werden, in Tücher eingewickelt.“

Das klingt enttäuschend für Schoschanna. Eine Krone wäre ihr lieber gewesen.

„Und habt ihr das Baby gefunden?“

„Oh ja. Aber zuerst waren da auf einmal ganz viele Engel, die gesagt haben: Gott im Himmel gehört alle Ehre!“

„Haben die auch geleuchtet?“

„Ja. Aber bald waren sie alle wieder weg. Wir haben uns dann sofort auf den Weg gemacht.“

„War es da eigentlich immer noch hell mitten in der Nacht?“

„Nein. Es war wieder so stockdunkel wie vorher. So stockdunkel wie jetzt. Aber wir liefen trotzdem los und fanden ein junges Ehepaar, das gerade ein Baby bekommen hatte. Sie hatten den kleinen Jungen wirklich in Tücher eingewickelt und in einen unbenutzten Futtertrog gelegt, so wie der Engel gesagt hatte.“

Plötzlich wird die Tür aufgerissen.

„Schoschanna, da bist du ja. Ich habe mir Sorgen gemacht!“

„Ja, Mama, ich bin schnell zu Großvater gegangen, als es plötzlich dunkel wurde, und er hat mir erzählt, was er einmal erlebt hat. Großvater hat schon einmal einen Engel gesehen!“

„Ja, ich weiß. Ich kenne die Geschichte gut. Und ich weiß auch, was aus dem kleinen Jungen geworden ist. Ich habe allerdings zuerst gar nicht begriffen, dass es derselbe ist.“

Jonathan nickte. „Ich habe es doch von Anfang an gesagt, als er das erste Mal hier in Jerusalem war: Das muss er sein. Das Alter stimmt auch.“

„Von wem redet ihr denn?“, fragt Schoschanna dazwischen.

„Er heißt Jeshua, und seit drei Jahren wandert er durch das Land und predigt[6]„, erzählt ihre Mutter. „Vor ein paar Tagen ist er nach Jerusalem gekommen. Er hat viele Wunder getan, dieser Jeshua. Viele Leute glauben, er ist Gottes Sohn.“

„Siehst du, Schoschanna, das ist aus dem Baby geworden, das ich vor über dreißig Jahren gesehen habe!“, sagt Jonathan.

„Ich habe ihn auch einmal hier in Jerusalem gesehen. Er hat gesagt: ‚Ich bin das Licht der Welt.’ Da musste ich daran denken, wie hell es in dieser Nacht plötzlich war, als er geboren wurde. Aber jetzt ist es immer noch dunkel mitten am Tag. Was ist da bloß passiert?“

In diesem Moment kommt Tante Deborah herein. „Habt ihr schon gehört was passiert ist?“, ruft sie aufgeregt.

„Ach, es ist so schrecklich! Stellt euch vor: Dieser Jeshua aus Nazareth, der ist … den haben sie gekreuzigt[7]!“

„Das kann nicht sein!“, sagt Jonathan entsetzt. „Ich weiß doch ganz genau, dass dieser Jeshua der Messias ist! Der Engel hat es gesagt! Ich habe es mit meinen eigenen Ohren gehört! Wie können sie ihn nur umbringen[8]?!“

„Es war eine Intrige[9]. Pontius Pilatus, der römische Gouverneur[10], hat zwar gesagt, dass Jeshua unschuldig sei, aber er hat das Todesurteil trotzdem unterschrieben. Und jetzt hat man ihn umgebracht!“

Der alte Jonathan stützt den Kopf in die Hände. „Da muss es wohl dunkel werden, wenn das Licht der Welt ermordet wird“, murmelt[11] er.

„Seht mal, es wird wieder hell!“ [12], ruft Schoschanna plötzlich.

Und Jonathan blickt auf und lächelt.

„Er hat gesagt, er ist Gottes Sohn. Er hat gesagt, dass der Tod ihn nicht festhalten kann, und ich glaube ihm. Wir werden es erleben.“

Irmgard Grunwald

[1] Dunkelheit
[2] Komisches, Ungewöhnliches
[3] hebräisches Wort für „Gesalbter“, das heißt ein König, Priester, Prophet. Der von den Juden erwartete Erretter seines Volkes.
[4] alte Bücher; hier ist das Alte Testament der Bibel gemeint
[5] ein Behälter, aus dem Tiere fressen
[6] predigen: von Gott sprechen
[7] kreuzigen: Todesstrafe für einen Verbrecher im Römischen Reich
[8] umbringen: töten, ermorden
[9] hinterlistig angelegte Verwicklung
[10] Leiter eines Verwaltungsbezirks
[11] murmeln: ganz leise sprechen
[12] vergleiche Lukas 23 Verse 44-45